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2010

"Schwieriges und beängstigendes Thema"

Engagiert in der Diskussion und fachlich hart am Thema: Prof. Matthias Elzer von der Fachhochschule in Fulda.

Prof. Matthias Elzer referierte an der Max-Eyth-Schule über das Thema "Amoklauf an Schulen"

 

Oberhessische Zeitung vom 19.02.2010

Einem gleichermaßen schwierigen wie beängstigendem Thema nahm sich am Mittwochnachmittag, einen Tag bevor es durch einen einen neuen Vorfall Aktualität gewann, die Lehrerschaft der Alsfelder Max-Eyth-Schule an, die den Fuldaer Professor Matthias Elzer als Referenten zum Thema "School Shooting - Amokläufe an Schulen" gewonnen hatte.

Seit dem Amoklauf von Erfurt im Jahr 2002 gibt es einen Krisenplan an der Max-Eyth-Schule, schilderte Schulleiterin Claudia Galetzka, die die Auseinandersetzung mit diesem "grausamen Thema" auch als "eine wichtige Aufgabe" innerhalb ihres Verantwortungsbereiches sieht. In einem kurzen Überblick über Zahlen und Historie wurden die Motive deutlich, die zu dem Amoklauf, zum "rasenden, gewaltsamen Übergriff gegen Unbeteiligte", führen: In der Mehrzahl der Fälle ist es Rache, die Täter sind fast immer männlich und sie kalkulieren ihren eigenen Tod mit ein.

Seit mehr als hundert Jahren sind immer wieder auch Schulen das Ziel von Amokläufen, so Prof. Elzer, in früheren Zeiten handelte es sich bei den Tätern stets um Erwachsene, oftmals mit einer diagnostizierten Psychose. Als "neue Realität eines alten Phänomens", mit den USA in der Vorreiterrolle, bezeichnete der Facharzt für Psycho- und Sozialtherapie die Amokläufe von Jugendlichen an ihren Schulen, die - mit einer Ausnahme in Ansbach - stets tödlich für die Täter enden, sei es durch Selbstmord oder durch Tötung durch die Polizei, die letztlich beabsichtigt sei.

Die Ursachenforschung bezeichnete Elzer als komplex, es gebe keine "Soziopathologie der Täter", unbestritten aber sei, dass diese "leidenden Täter" seien und "keine Monster", die Tat Ausdruck von Krankheit oder seelischer Störung. Die Forschung erlaube lediglich Hypothesen zu Einzelfaktoren, die auf gesellschaftlicher, biologischer und psychologischer Ebene anzusiedeln seien. So sei der übermäßige Konsum von Medien, besonders Fernsehen und PC, zum einen mitverantwortlich für eine Behinderung der Intelligenzbildung, zum anderen werde die Hirnentwicklung, die bis zum 18. Lebensjahr dauert, negativ beeinflusst. Ein 18-Jähriger habe bereits 32 000 Morde im Fernsehen gesehen, so die Statistik, dies bleibe nicht ohne "Niederschlag im Kopf".

In den Medien selbst finde eine Verwahrlosung und Verkindlichung statt (gemeint sind Sendungen wie "Big Brother" oder "Dschungelcamp"), gleichzeitig dringe die Erwachsenenwelt in die Kindheit und Jugend ein. Die Macht der Bilder rufe starke Emotionen bei Kindern und Jugendlichen hervor, die Aggressionsbereitschaft erhöhe sich. Potenziert werden diese Folgen des TV-Konsums durch PC-Spiele, die zudem eine andere Realität vorgaukeln, in der Unverletzlichkeit, Omnipotenzfantasien und Pseudobeziehungen eine große Rolle spielen. Nicht zuletzt nannte Elzer auch die - spätestens seit dem Internet - problemlose Verfügbarkeit von Waffen.

Interessant gestaltete sich die psychosoziale Sicht auf die Person eines Amokläufers: Die Jugendlichen verfügen, so die Forschungsergebnisse, über ein schwaches Ego, sie haben kein Selbstwertgefühl, leiden unter Misserfolgen, leben im sozialen Rückzug. Ihre Bewältigungsversuche bestehen aus Wut, Hass auf sich selbst und andere, sie ziehen sich zurück in Größenfantasien, kompensieren ihr mangelndes Selbstwertgefühl mit Waffen und lange vorbereiteten, keineswegs spontan ausgeführten Verzweiflungstaten, immer mit der Bereitschaft zur Selbstzerstörung. Aus ärztlicher Sicht schwanken diese Menschen stets zwischen Größenwahn und Depression mit Selbstmordneigung.

Vor diesem Hintergrund inszenieren sie einen "starken Abgang", ihre Selbsttötung unter Mitnahme verhasster Menschen, auf die der Selbsthass projiziert wird. Durch die Massenmedien bekommt der Täter nicht nur Recht ("Ihr werdet noch an mich denken!"), oftmals wird er durch den vollzogenen Tabubruch zum "Helden" und Vorbild für Nachahmungstäter. Auf Seiten der Opfer, ihrer Familien und Freunde hinterlässt er schwerste Traumata, die über Jahrzehnte anhalten.

Selbst wenn alle diese Faktoren zusammenkommen, muss, so Elzer, daraus nicht notwendigerweise ein Amoklauf entstehen, viel zu komplex sei das Thema, dennoch sollte man an Schulen das Profil kennen, um vielleicht gefährdete Jugendliche ansprechen zu können. Vorbeugend sollte eine soziale Kultur an Schulen entstehen, ein System, das offene Gewalt durch Grenzen und Regeln sanktioniert.

In der Diskussion verliehen einige Lehrer ihrer Unsicherheit Ausdruck, wie sie mit Schülern, bei denen sie ein "ungutes Gefühl" hätten, umgehen sollen. Zudem wiesen sie darauf hin, dass die Stelle der Schulsozialarbeiterin sogar gestrichen wurde und somit mehr Verantwortung auf ihnen laste, die sie kaum tragen könnten. Trotz dieser Schwierigkeiten appellierte Elzer an die Pädagogen, den "Mut zu haben, auf Einzelne zuzugehen und jemandem, der Hilfe braucht, diese auch anzubieten".